Mit der Revolution der 1968er Generation wurden bisherige Rollenkonzepte grundsätzlich hinterfragt, genauso wie gutbürgerliche Dirigismen und Formen von staatlichen Steuerungsmechanismen, zur Vorzeichnung menschlicher Lebenswege, neu überdacht wurden. Die Pluralität des Menschen (ganz im Sinne Hannah Arendts) wurde mehr und mehr von den Frauen eingefordert.

„Eine ganze Generation!“

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Die 68er sind streng genommen keine Generation. In der Soziologie wird der Begriff der Generation für eine Gruppe von Menschen verwendet, die aufgrund der Erfahrung historischer, unter Umständen traumatischer, Ereignisse oder bestimmter kultureller und sozialer Konstellationen eine zeitbezogene Ähnlichkeit aufweisen. Korrekterweise wird eine Gruppe von Personen, die gemeinsam ein bestimmtes längerfristig prägendes Ereignis erlebt hat, oder die im selben Jahr geboren wurde, als Kohorte oder Geburtskohorte bezeichnet.

Und wenn wir heute von „den 68ern“ sprechen, sind selten die politischen Umschwünge und die Kritik an der Gesellschaft gemeint, also nicht die damals herrschenden sozialen und politischen Konventionen oder den Aufstand dagegen, sondern bestimmte Ereignisse wie Woodstock. Die 68er sind die einzige „Generation“, die heute noch wächst. Menschen fühlen sich immer noch von den Ideen der Zeit angezogen und auch solche, die damals noch nicht geboren waren oder zu jung, um selbst zu protestieren, fühlen sich zugehörig.

Gerechtigkeit für die 68er

Sucht man nach einer Chronik des Jahres ’68 stößt man auf das Attentat auf Rudi Dutschke, der als Wortführer der linksorientierten Studentenbewegung in Westdeutschland gilt. Die bis dahin friedliche studentische Protestbewegung wurde zur Revolte, die Gewaltbereitschaft nahm zu, Blockaden und Demonstrationen gehörten zur Tagesordnung. Prägend sind auch die Bilder schwarzer Athleten, die bei den olympischen Spielen in Mexiko-Stadt still die Faust in die Luft strecken und so gegen die Doppelmoral der U.S. Army protestieren: schwarze Männer gehen für das Land an die Front, dürfen Zuhause aber nicht wählen und sind noch immer Zweite-Klasse-Bürger. In Paris revoltieren die Studenten, Martin Luther King Jr. wird in Memphis ermordet, der Prager Frühling wird von Panzern beendet.

Eines haben sie alle gemein: Bewegung nach vorne, Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Missständen, Bildung, Zugang zu Bildung und Wohlstand, anti-Kriegs Sentiment, Öffnung und Durchlässigkeit in den Gesellschaftsschichten, Kritik am alten Rollendenken. Die Studentenbewegung der 1960er Jahre folgte keiner kollektiven Agenda, sondern setzte sich aus vielfältigen politischen, sozialen und ökonomischen Strömungen zusammen.

Alt wird neu

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Selbstliebe, freie Liebe, kommunale Liebe, Liebe zur Freiheit, Erforschung der Sexualität, offene Beziehungen, Partnerwechsel, Dreier, Vierer und Orgien. Nichts davon war neu, die Art des Umgangs jedoch war eine Revolution in sich.Das strikte Rollendenken welchem sich die 68er nicht mehr unterordnen wollten verfestigte sich in Europa erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der Biedermeier-Zeit. Im Mittelalter zum Beispiel kannte man Dünkel gegenüber außerehelichen sexuellen Beziehungen nur bedingt, viele Kunstwerke dieses Zeitalters zeigen offen die sexuellen Akte.

Die konservative Kleinfamilie gewann im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung, geschuldet unter Anderem der Einführung allgemeiner Schulpflicht (und folglich höherer „Kosten“ für Kinder, sie fielen als Arbeitskräfte weg), einem Rückgang der Kindersterblichkeit und dem ökonomischen Fortschritt. Das zuvor übliche Konzept von Großfamilien und Mehrgenerationenhaushalten beschränkte sich zunehmend auf die armen, bildungsfernen Gesellschaftsschichten. Privat, also unbeobachtet, zu leben war zuvor für die große Mehrheit einer Gesellschaft schlicht nicht erschwinglich. Wohnraum war Mangelware. Mit steigendem Wohlstand, dank der Industrialisierung und des technischen Fortschritts, wurde privat zum neuen normalLiebe, Familie und Ehe wurden hinter geschlossenen Türen gelebt.

Und was hat das nun mit der Liebe zu tun?

Um die Umschwünge in den 1960er Jahren zu begreifen muss klar sein, dass die sexuelle Revolution mit der Verhütungsrevolution einherging: der Einführung der Antibabypille. In den meisten demographischen Studien die sich mit den Geburtenraten deutscher Frauen im 20. Jahrhundert beschäftigen ist dies mit dem „Pillenknick“ verzeichnet: einem schlagartigen Rückgang in der Geburtenzahl. In ihrer neuen Sexualethik forderten die 68er unter anderem die Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung, dieses Ziel wurde jedoch erst 1976 erreicht. Sex macht Spaß – und muss nicht der katholischen Lehre folgend immer dem Zwecke der Fortpflanzung offenbleiben. Die Antibabypille ermöglichte außer- und vorehelichen Sex ohne Folgen – ein Fortschritt für alle Frauen, verheiratet und ledig. Aufgewachsen in relativem Wohlstand, einer stabilen ökonomischen Lage und unbelastet von großen Katastrophen fand ein Wertewandel statt: Das Ich stand nun im Vordergrund.

Liebe als inhärent mit Freiheit verbundenes Phänomen

Liebe wird aus dem ehelichen und familiären Kontext gelöst. Sie wird, nach Peter Lauster, als psychologisches Phänomen verstanden, ein an die Wahrnehmung gebundenes Ereignis des Moments, nicht erzwungen oder andauernd. Folgt man der Argumentation Lausters weiter, geht es der freien Liebe um die bedingungslos offene, wertungsfreie Wahrnehmung des Partners. Institutionen wie die Ehe können die Entfaltung einer Liebesbeziehung sogar eher behindern, durch die Enge und Zwänge des staatlich und kirchlich definierten, überholten, Konstrukts. Bereits Charles Fourier (1772-1837) propagierte Lebens- und Arbeitsgemeinschaften von Menschen die nicht einer Familie angehören, unter anderem motiviert und zusammengehalten durch „freie“, also nicht eheliche, Liebe. Für Fourier bedeutete freie Liebe jedoch über die Gemeinschaft hinaus die uneingeschränkte Freiheit sich für jede Art von Partnerschaft entscheiden zu können, also auch monogame Zweierbeziehungen. Der Begriff der freien Liebe, wie wir ihn heute von den 68ern übernommen haben, beruht eher auf der Interpretation der Anhänger Wilhelm Reichs und Vertretern der Kommunenbewegung.

Freie Liebe meint Sexualität und Liebe losgelöst von tradierten Normen ausleben zu können. Dazu gehört, dass das Geschlecht und die Anzahl des oder der Beteiligten, die Dauer und die Art der Beziehung ausschließlich von den Beteiligten definiert werden und jederzeit wandelbar sind. Kopulierende Pärchen beobachten zu können, ist in den Kommunen der 68er und auf den großen Festivals und Demonstrationen jener Zeit normal. Damit wenden sie sich gegen das System verschlossener Türen und verhängter Fenster und verlangen Platz und Freiheit für ihr Bedürfnis nach Emanzipation und Selbstverwirklichung. Wir nennen die Folgen davon heute unter anderem die Individualisierung des Lebensweges und honorieren so zumindest ein wenig die Erfolge, die die radikale Auflehnung mit sich brachte.

Kritiker und Kinder der 68er bemängeln die Abwendung von sozialer Verantwortung und Solidarität und dem Generationenvertrag. Mangel an Disziplin und anti-autoritäre Erziehungsformen machten die Kinder der 68er zu weit konservativeren Menschen – das ewige Dilemma der Generationen. Die Werte, die den Wandel erst ermöglichen, müssen Platz machen, für eine Generation die Konsum und Freiheit zur neuen Religion erklärte.

Die 68er sind kein einheitlich wahrgenommenes Phänomen, das sich in die eine oder andere Schublade stecken ließe. Je nach Sicht- und Zeitpunkt treten andere Charakteristika, Erfolge und Verfehlungen einer Generation zu Tage, die erst im Nachhinein zu einer Gemeinschaft wurde die durch viel mehr definiert ist als eine Zahl. Eine Generation und was sie dazu macht wird fast immer im Nachhinein festgelegt. Wie man die Ziele und Proteste der 68er bewerten muss, lässt sich nicht bestimmen. Es will gesagt sein, dass die Bewegung selbst sich in verschiedene Lager aufteilte und bei weitem nicht eine ganze Generation derselben Leitlinie folgte. Hier sind einige Lager beleuchtet, die unser Bild heute maßgeblich geprägt haben. Eine tiefgehende Analyse des Zeitalters ist erschöpfend möglich, die Unterteilung in mehrere Teilsysteme zwingend notwendig, um ein Jahrzehnt des Umbruchs und der Neuordnung zu begreifen.

„Trau keinem über dreißig!“ lautete das Bekenntnis der Jugend – vor 50 Jahren.

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Mit Liebe zusammen getragen aus:

https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/studentenbewegung/index.html

Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928/29)

https://www.cicero.de/kultur/68er-generation-selbstbedienung

https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Liebe

Villinger, Ingeborg: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft. Vol. 17, 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (1998)

Birgmeier, Bernd: Die „68er“ und die Soziale Arbeit

Brümmerloh, Hannelore: „…when I ́m sixty-four“: Die 68er in der Lebensphase Alter

https://www.grundrisse.net/grundrisse03/3_68erBewegungTeil1.htm