Im Winter 1968-69 erreichte der wissenschaftliche Diskurs zwischen kritischer Theorie nach Jürgen Habermaß und Niklas Luhmanns funktionalistischer Soziologie einen Höhepunkt. Trotzdem gab Luhmann in diesem Wintersemester an der Frankfurter Universität unter anderem ein Seminar, das sich mit dem Thema Liebe befasste. André Kieserling, Leiter des soziologischen Lehrstuhls an der Universität Bielefeld, veröffentlichte 2008 das bis dahin vier Jahrzehnte lang unbeachtete Seminar-Konzept Luhmanns, dessen Diskussionsvorlagen im März 1969 an der Universität Münster fertiggestellt wurden. Luhmanns Ausführungen waren dabei deutlich kühler, als der Seminar-Titel es vermuten ließ. Liebe ist kein System, so der Begründer der Systemtheorie. Und sie ist auch kein Gefühl! Aber was ist Liebe für den Gesellschaftstheoretiker dann? Soziologisch betrachtet ist Liebe ein Code, so wie Geld oder Macht – ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, so Luhmann. Halt – mögen Sie jetzt denken. Liebe ist kein Gefühl? Wer ist dieser Luhmann und wie kommt er darauf?

Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass Luhmanns Forschungen sich mit Verwaltungsautomation, Formalstrukturen in Organisationen, Rationalität, Zwecksetzung sowie Funktionalismus-Theorien und der Gesellschaftslehre befassten – nach dem Begriff „Liebe“ sucht man in diesen Werken vergeblich. Luhmanns Systemtheorie beschreibt die Gesellschaft als eine Fülle von nebeneinander existierenden sozialen Leistungsbezirken (Systeme), die eigene Regeln ausbilden und sich mittels Kommunikation ausdifferenzieren. Mit Hilfe der Systemtheorie gelang es Luhmann den bisherigen Erklärungspluralismus zu gesellschaftsrelevanten Phänomenen zu kanalisieren und universell mit nur einer gesellschaftsumgreifenden Theorie darstellbar zu machen. Von kleinsten Mikroorganismen bis hin zur Milchstraße ist die Systemtheorie auf nahezu alles anwendbar, um relativ präzise Vorhersagen über das Systemverhalten zu ermöglichen. Von simplen Netzwerk-Modellen bis hin zur Chaostheorie revolutionierte sie unser Verständnis von überkomplexen Systemen und ihre Erkenntnisse werden deshalb in vielen Wissenschaften als methodisches Arbeitskonzept genutzt. Luhmanns Systemtheorie zielt auf die Entwicklung der Gesellschaft als umfassendes soziales System sowie ihrer Ausdifferenzierung in unzählige Sub-Systeme ab. Toll, denken Sie nun… Was hat das denn mit der Liebe zu tun?

So beschreibt Luhmann die Liebe als, „den Unterschied zwischen einer Frau und anderen Frauen zu übertreiben“. Liebe sei nichts als der Austausch von strategischen Illusionen, was vermutlich eine der nüchternsten Analysen darstellt, die jemals formuliert wurden.

Wenn die Liebe doch aber kein System ist, weshalb gibt er dann ein Seminar zu dem Thema?

Ihren Sinn streitet der Systemtheoretiker keinesfalls ab. Liebe ist für Luhmann ein Produkt unserer modernen Gesellschaft, welches uns Anerkennung stiften soll, damit wir, angesichts immer weitergreifender Anforderungen unserer (an Komplexität zunehmenden) Möglichkeiten schlichtweg nicht verrückt werden. In trauter, manchmal erotischer, Zweisam-Zeit regenerieren wir uns von Alltagssorgen. Im Alltag dann reicht ein Gedanke an den Partner, um uns gut zu fühlen. „Das Unsagbare und Unvergleichliche der Liebe werde durch nichtsprachliche Kommunikation bekräftigt, die Liebe umgekehrt überbrückt die Zeit zwischen der unmittelbaren Zweisamkeit“. (Kaube:3) Sie ist ein uns beschäftigender Lebensaspekt geworden, somit ein Teil unserer Gesellschaft, was sie wiederum interessant für die Gesellschaftswissenschaften macht.

Aber wenn die Liebe doch in Luhmanns Theorie und der Gesellschaft vorkommt, warum ist sie dann (soziologisch betrachtet) kein Gefühl? Naja… Weil niemand die Liebe als etwas immer gleiches beschreibt, so Luhmanns Argument. Sie ist keine greifbare Entität. „Man muss die Anteile individueller Emotionen nicht leugnen, um doch zu wissen, dass diese erst durch kulturelle Typisierung zu Liebe und als Liebe erkennbar werden“, so Luhmann. (Kaube:2) So ist das Konzept von Liebe isoliert lebenden indigenen Kulturen tatsächlich weitestgehend unbekannt, was den Schluss zulässt, dass wir Liebe in unserer Umwelt entwickelt haben und ihren jeweiligen Entwicklungsstatus im Kontext des jeweiligen Zeitgeistes erlernen. Wir sprechen immer dann von Liebe, wenn wir eine Geste als solche betiteln und sie als liebevoll erfahren wollen, weil wir Liebe als Schema erlernt haben.

liebe gemeinsam pop art

Luhmann beschreibt weiter, dass die Vorstellung, die wir von der Liebe haben, uns dabei im Wege stünde, sie richtig üben zu können. Wie meint er das nun wieder? Wir wissen nicht aus eigener Überzeugung, dass wir verliebt sind oder geliebt werden, sondern wir erlernen, die Bedeutung von bestimmten Gesten und Handlungsergebnissen zu interpretieren, die wir mit Liebe betiteln. Die Medien kurbeln unsere Gefühlsdeutung mit romantisierten Vorstellungen und Szenarien weiter an, von denen wir uns wiederum gegenseitig erzählen, ihnen nacheifern und sie selbst versuchen zu re-inszenieren. Damit verfallen wir jedoch dem romantischen Fehlschluss, wie Elliott und Merrill es betitelten. Die Bedeutungsüberschätzung zeigt uns Hollywood-Traumprinzen, die wir in der Realität nicht finden können und spielt uns utopische Szenarien vor.

Zentral fokussiert Luhmanns Ausführung die Auswirkungen von Liberalisierungs-Prozessen, welche in ihrer Eigendynamik neue Herausforderungen für uns als Gesellschaft begründet haben. Luhmann beschreibt die Liebe als „moderne Freiheit, in der Paarfindung ohne ständische oder elterliche Vorschriften“ möglich gemacht wurde. Doch damit stieg der Druck für die Suchenden selbst, auch wenn die Gesellschaft das Risiko beliebiger Heirat (außerhalb von Stand, Schicht oder Kulturhintergrund) mittlerweile gut ertragen kann. Die Liebe ihrerseits muss sich nun behaupten und unter Beweis stellen, dass sie allein eine stabile Beziehung begründen kann, welche nicht mehr zusätzlich durch Moral, Herkunft oder finanzielle Werten gestützt wird. Steigende Scheidungsraten und die sich immer mehr durchsetzende Lebensform des überzeugten Singles sprechen bislang gegen einen bahnbrechenden Erfolg dieses Konzeptes. Aus diesem Ansatz heraus versteht sich Luhmanns Geld/Macht-Vergleich. Wie Geld oder Macht lässt uns Liebe auf andere Menschen abgestimmt handeln, jedoch ohne den Gehorsams- oder Entlohnungscharakter der ersten beiden aufrecht zu erhalten. Sie begründet sich auf der Idee, das eigene Leben stellenweise aufzugeben, um es in das Leben des anderen zu integrieren, um gemeinsam erleben zu können. Diese Idee ist jedoch nicht nach einem konkret vorgegebenen Schema-F umsetzbar. Ihr Erfolg kann zudem nur selektiv überprüft werden und die Beziehung hält nur, solange beide Partner an dieser gemeinsamen Idee festhalten. Das heißt nicht, dass beide jeden Aspekt ihres Lebens unmittelbar miteinander verbringen müssen. Aber sie sollten den jeweils anderen verstehen, unterstützen und seine Entscheidungen teilen. Denn was nach Luhmann die Liebeserwartung verletzt ist kein „Ich möchte nicht“, sondern ein „Das geht dich nichts an“. Soziologisch betrachtet ist die Liebe also in ständiger Gefahr, einer unterschiedlichen Zielwahrnehmung beider Partner zu unterliegen und dadurch für diese zu einem fatalen Erleben zu mutieren. Ein Resultat unserer neu gewonnen Fülle an Freiheiten.

Wenn wir heute also die Liebe auf Probe praktizieren, eine Partnerschaft mit sofortiger Ausstiegsmöglichkeit arrangieren, One-Night-Stands eingehen oder sogar Liebschaften außerhalb unserer Beziehungen führen, widerspricht das klar dem Liebesideal. Luhmann erkennt hier eine unausweichliche Folge des entfesselten Risikos, angesichts so vieler Möglichkeiten eine falsche Wahl zu treffen. Wer hier an den biologischen Paarungstrieb denken mag, vergisst, dass die meisten der heutigen Liebeserfahrungen bewusst nicht fortpflanzungsmotiviert sind. Die Liebe hat sich in den letzten 100 Jahren zudem einem enormen Wandel unterzogen. Zunächst galt Erst Ehe, dann Sex. Später wurde daraus die Norm Erst Liebe dann Sex, während heute die gängige Erwartungshaltung auf Erst Sex, dann Liebe – dann vielleicht irgendwann mal Ehe hinausläuft. Dieser Wandel ist vielleicht schnell zusammengefasst, jedoch liegen ihm unvorstellbare gesellschaftliche Umbrüche, ein radikaler Mentalitätswandel und ein völliges Umdenken in Bezug auf das Normen- und Werteverständnis zu Grunde.

Luhmanns Theorie stellt somit vielmehr die „Freiheit von Dirigismen“ – von gesellschaftlichen Beschränkungen und äußeren Zwängen – in den Fokus, welche das gutbürgerliche Leben bis dahin prägten. So spricht er von politischer, künstlerischer und religiöser Ausdrucksfreiheit. Die Freiheit den eigenen Willen selbstbestimmt auszuleben, wie man es zentral fassen könnte. Dabei entstammt seinen Diskussionsbeiträgen auch die Frage nach einem polarisierten Abdriften ins andere Extrem. „So wie das Gegenteil von Planwirtschaft nicht die Anarchie des Marktes ist, besteht für Luhmann die Alternative zur Zwangsheirat nicht in einer Orgie im Dark-room“, so Kieserling. (Cicero-2008) Es wäre sicherlich interessant gewesen, wie Luhmann das Dating-Verhalten der heutigen Insta-Google-Tweet-Face-Generation interpretiert hätte. Der gesellschaftliche Sprung vom traditionellen Hand-Anhalten bei den Eltern der Liebsten hin zum App-gesteuerten Tinder-Dating geschah in wenigen Generationen. Die Frage, wo uns dies noch hinführen mag, ist also durchaus gerechtfertigt und heute aktueller als jemals zuvor. André Kieserling fügt an, dass man die Zeit seit 1969 als eine Phase von Lerngewinne beschreiben könnte.

Quellenverzeichnis:

Cicero-2008

Kieserling, A. „Liebe. Eine Übung“ Hg. André Kieserling. Suhrkamp-Verlag Frankfurt a.M. 2008 S.8

URL: https://www.cicero.de/kultur/freie-liebe-und-sozialtechnologie/43425