Alles hat einen Grenznutzen (naja… essentielle binäre Codes wie Geld und Macht vielleicht nicht so sehr), aber in der Regel hat das erste Stück Pizza einen höheren Nutzen für uns, als das 96te. Wie sich also die Theorie des absinkenden Grenznutzens bei der Liebe verhält, ist ziemlich gut gefragt. Die Neurobiologie würde jetzt sagen, dass die Neuronen im Gehirn glücklich sind, sobald sie ihr Serotonin bekommen haben. Wir sind damit ebenfalls glücklich und fertig aus. Nach der rosaroten Zeit des Kennenlernens, gewöhnen wir uns an diese Glücksgefühle und stumpfen langsam in der Beziehung ab. Dann ist aber auch denkbar, dass unser individueller Grenznutzen maßgeblich an diesem Prozess beteiligt ist oder zumindest beeinflusst wird. Und wenn dem so wäre: Könnte Polyamorie dann für uns alle als Zukunftsmodell der Liebe tragfähig sein?

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Aber zuvor ist eine simple Differenzierung ganz wichtig: Polyamorie bedeutet nicht Promiskuität. Das wäre der ausgelebte Wunsch, mit möglichst vielen verschiedenen Partnern wahllos ins Bett zu steigen (siehe auch das lateinische Adjektiv promiscuus – gemeinsam bzw. das daraus entstandene Verb miscere – mischen). Streichen Sie auch Swingerclubs, Harems oder heimliche Zweit-/Dritt-Familien von ihrer Liste. Polyamorie steht schon im Wortlaut (poly – viel und amorie – Liebe) für den Drang, mit mehreren Menschen eine dauerhafte, harmonische, liebevolle und für alle Beteiligten erfüllende sowie einvernehmliche Liebesbeziehung zu führen.

Die Strukturen dieser Vielbeziehungen unterscheiden sich somit nicht wirklich von dem Konzept einer Paarbeziehung, außer natürlich in der Anzahl der Liebenden. Es ist klar, dass polyamore Partnerschafts-Konzepte zunächst mit unserem Verständnis von Monogamie oder Treue kollidieren werden. Das Bedürfnis nach Akzeptanz der polyamoren Identität ist bei solchen Paaren trotzdem extrem ausgeprägt. Sie sind stolz auf ihren Lebensentwurf und kommunizieren ihn auch offen nach außen hin. Dennoch räumen polyamor Liebende oftmals ein, dass eine Vielbeziehung allen Beteiligten mehr Einsatz abverlangt – immerhin lässt man sich nicht nur auf einen Menschen ein, sondern muss die Bedürfnisse, Sorgen und Probleme von mehreren Menschen planbar machen. Dieses zusätzliche Commitment klingt nicht nur anstrengender… Nur etwa 2% aller befragten Deutschen könnten sich vorstellen, das Konzept der Monogamie durch Alternativmöglichkeiten zu ersetzen, so eine aktuelle Studie.

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Konstantin Nowotny hat hieraus einen spannenden Ansatz formuliert. Er folgerte, dass Polyamorie in den heutigen westlichen Industrienationen eine direkte Folge des Kapitalismus sei. Kapitalismus und Perfektionismus ergänzen sich ja bereits prima. Obwohl Nowotny der rational choice theory wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt, entsteht hier ein interessanter Nexus. Polyamore Beziehungen verfolgen durchaus eine gewisse Nutzenmaximierung dessen, was sie sich von Liebe und Beziehung wünschen. Es wäre also die rationale Wahl, diesen gesteigerten Nutzen auch anzustreben. Dagegen spricht jedoch wiederum, dass dann nur 2% in diesem Konzept eine echte Perspektive erkennen.

Welche Vorteile sollen Vielbeziehungen denn überhaupt haben? In polyamoren Beziehungskonzepten werden, laut Nowotny, einige Konflikte der Multi-Optionalität gelöst. Anders gesagt: Menschen wünschen sich Abwechslung in der Beziehung und wollen abwechslungsreiche Partnerschaften (am besten mit unterschiedlichen Menschen) führen.

Phänomene wie Swingerclubs, Pornografie, Dating-Apps oder der Dschungel der Beziehungstrends sind somit nur Symptome des menschlichen Syndroms Langeweile. Wir wollen Abwechslung in unser Erleben von Liebe und Partnerschaft bringen. Was in monogamen Konzepten dabei unmöglich erscheint, kann in polyamoren Beziehungen offen ausgelebt werden – ohne Trennung, Fremdgehen oder Facebook-Communities für Gruppensex-Treffen. Ähnlich verhält es sich bei den Opportunitätskosten, also den Erlösen die uns entgehen, weil wir bestimmte Möglichkeiten nicht genutzt haben.

Als klassisches Beispiel für Opportunitätskosten wird oft das Gehalt genannt, das wir auf dem Arbeitsmarkt nicht verdienen können, weil wir uns für Haushalt und Kindererziehung entschieden haben. Sobald wir uns monogam binden, kostet uns das die anderen Möglichkeiten (unsere Opportunitäten) auf dem Partnermarkt. Ob es aber wirklich ein Plus an Freiheit ist, sich mehrfach zu binden, möge jeder für sich selbst entscheiden. So betrachtet klingen Vielbeziehungen durchaus abwechslungsreicher. Zugleich bleiben die wichtigen Eckpfeiler der monogamen Beziehung bestehen. Polyamorie sei somit zumindest das Potenzial zugestanden, den Routinetrott einer Beziehung hinauszuzögern.

Wenn sich Menschen an jemand anderen binden, läuft das zudem ihrem Drang zur Perfektion zuwider, der mittlerweile durch die Entgrenzung der Möglichkeiten in unserer Gesellschaft immer greifbarer wird. Das Supermarkt-Beispiel mit dem cleversten Einkauf funktioniert im übertragenen Sinne auch auf dem Partnermarkt. Wir wollen den perfekten Traumpartner und Gesetze -gesellschaftliche Konventionen und Dirigismen bis hin zu Dating-Apps liefern uns ein schieres Überangebot an Möglichkeiten und potenziellen Angeboten – wir müssen nur noch zugreifen. Bei falscher Wahl ist ein Umtausch jederzeit möglich. Viele machen ja mittlerweile durchaus von diesem Umtauschrecht gebrauch. Eheschließungen erodieren, das Eheeintrittsalter steigt seit Jahren an und der Fertilitätslevel sinkt. Der Generationen-Trend bewegt sich deutlich von bindenden Entscheidungen weg oder stellt sie zumindest häufiger hinter Karriere und Privatinteressen an.

Steckt das gutbürgerliche Konzept der Monogamie damit also in der Krise? Könnte es vielleicht komplett kippen und einen neuen großen Wertewandel für Beziehungen begründen?

Friedrich Engels schrieb einst seine Utopie von einer neuen Liebe nieder. Er folgerte, dass die Monogamie das Produkt der Versorgerehe sei. Dieser beinahe zweckhafte Ehecharakter diene ausschließlich dazu, den Besitzstand der Familie auf die genetischen Kinder des Mannes (als Familienpatriarch) weitervererben zu können. Im Umkehrschluss, so Engels, wäre mit der Auflösung der Versorgerehe (also mit dem Ende der finanziellen Abhängigkeit der Frau vom Mann) Raum für echte Liebe, in der sich Menschen nur der Liebe wegen binden. Bis hierhin hatte Engels noch völlig Recht. In unserer Gesellschaft kommen heute die wenigsten Paare aus einem anderen Grund zusammen, als um der Liebe willen. Friedrich Engels ging jedoch noch einen Schritt weiter und konstatierte, dass sich in der direkten Folge die monogamen Paarentwürfe auflösen würden und die Gesellschaft in einer freien Liebe und Nächstenliebe eine Form des Paradieses erschaffen würde. Wie wir sehen… auch Emanzipation, Pillen-Knick und juristische Gleichberechtigung haben am Monogamie-Konzept unserer Gesellschaft nicht mal ansatzweise gerüttelt. Von einer Krise kann bei weitem nicht die Rede sein. Polyamore Beziehungsmodelle sind einfach noch nicht reif, um in unserer Zeit wirklich gesellschaftsfähig zu sein.

Somit hat Liebe sicherlich einen Grenznutzen, der jedoch bei jedem von uns anders gelagert ist. Solange jeder diesen persönlichen Grenznutzen erreicht (also erfüllend liebt und geliebt wird), können polyamore Beziehungskonzepte durchaus als konstruktive Alternative zur Monogamie betrachtet werden – ohne dabei gesellschaftlicher Standard werden zu müssen. Außerdem weiß niemand, was die Zukunft noch bringen wird… Was glauben Sie? Werden wir irgendwann die Liebe ganz neu erfinden, oder werden wir in 1000 Jahren noch so lieben wie heute? Bedenken Sie dabei, was sich in den letzten 1000 Jahren getan hat.

Mit Liebe recherchiert…

Quellen:

Nowotny, K. „Polyamorie als kapitalistisches Symptom: hat Liebe einen Grenznutzen? – Konstantin Nowotny“. Am 08.11.2017 von „6. Studentischer Soziologiekongress“ auf Youtube hochgeladen.

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